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Deutscher Kolonialismus im Süden Tansanias: Transgenerationale Auswirkungen auf ressourcenbedingte Konflikte

Megatrends Spotlight 41, 07.11.2024

Der Kolonialismus hat dauerhafte Auswirkungen auf die sozioökonomische Entwicklung und die politische Stabilität Afrikas. Nancy Rushohora erklärt, wie Ausbeutung und Willkür aus der deutschen Kolonialzeit sich über Generationen hinweg auf betroffene Gemeinden in Tansania auswirken.

Das Erbe des Kolonialismus in Afrika ist tiefgreifend, und seine Auswirkungen sind noch immer auf dem gesamten Kontinent spürbar - insbesondere im Hinblick auf sozioökonomische Entwicklung, politische Stabilität und Konfliktdynamiken. Der deutsche Kolonialismus, der Gebiete im Osten des afrikanischen Kontinents einschließlich des heutigen Tansanias umfasste, war durch die Einführung ausbeuterischer wirtschaftlicher Praktiken und willkürlicher politischer Strukturen gekennzeichnet, die lokale Gemeinschaften stark beeinträchtigten. Im Süden Tansanias zeigen sich bis heute dauerhafte kulturelle Auswirkungen des deutschen Kolonialismus. Sein Einfluss auf ressourcenbedingte Konflikte ist immer noch spürbar und prägt die Muster der Ressourcennutzung, der ethnischen Beziehungen und des Zugangs zu Ressourcen über Generationen hinweg. In diesem Spotlight wird der Schwerpunkt auf das heutige Südtansania gelegt, wo gesellschaftliche und ressourcenbezogene Konflikte eine Folge der generationenübergreifenden Auswirkungen des Kolonialismus sind. 

Kolonialismus war eine wirtschaftlich motivierte, gewaltsame Expansionspolitik zur Durchsetzung wirtschaftlicher Vorherrschaft. Die Anwendung von Gewalt bei der Errichtung von Baumwollplantagen im Süden Tansanias führte zu mehreren Widerstandsbewegungen, von denen der Majimaji-Widerstand von 1904-08 der bedeutendste war. Die transgenerationalen Auswirkungen des Kolonialismus umfassen die anhaltenden Folgen der Unterdrückung, die von Generation zu Generation übertragen werden und sich so noch ein Jahrhundert später auf das wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Wohlergehen der Bevölkerung auswirken.

Der Süden Tansanias hat ein lang anhaltendes sozioökonomisches Trauma erlebt, das seine Wurzeln in der Politik der Kolonialzeit hat, als die Region aufgrund ihrer Beteiligung am Majimaji-Widerstand als "Rebellengebiet" bezeichnet wurde, das keine Entwicklung verdiene. Der Historiker Gus Liebenow (1971) bezeichnete den Süden Tansanias als “Aschenputtel” und verwies auf die anhaltende Armut und wirtschaftliche Marginalisierung der Region. Dort sind das anhaltende Trauma und die Geschichte der Armut zu einem Nährboden für Radikalisierung und Gewalt geworden. Die mangelnde Beteiligung der Bevölkerung  an der Verwaltung und Nutzung natürlicher und kultureller Ressourcen (einschließlich der Erdgasreserven im Indischen Ozean und der Kulturerbestätten im Selous-Wildreservat) und das Erbe der kolonialen Plünderungen haben im Süden Tansanias einen Nährboden für Konflikte geschaffen. Zur Veranschaulichung werden hier drei Fälle vorgestellt. Sie betreffen Konflikte um die Ressourcengewinnung im Süden Tansanias, die Rolle des Kolonialismus bei Landnutzungskonflikten um den Nyerere-Nationalpark sowie den Umgang mit geplünderten Dinosaurierfossilien.

Ressourcenbedingte Unruhen in Südtansania

Einer der jüngsten Konflikte um die Ressourcen Tansanias entstand 2010 als Protest gegen die Weiterleitung von in der Mnazi-Bucht (Region Mtwara) entdecktem Erdgas nach Dar es Salaam, um die Stromversorgung des Landes zu verbessern, die stark von Wasserkraft abhängig ist. Im Süden Tansanias wurde die gemeinsame Nutzung des Erdgases mit dem Rest des Landes als Beeinträchtigung der Entwicklung der historisch marginalisierten Region angesehen - nach einem wirtschaftlichen Aufschwung während der Explorationsphase. Die Bevölkerung lehnte die Gasleitung ab, die der  Region ihren Reichtum nehmen sollte und eine Volksbewegung drohte mit Abspaltung. Die Art und Weise der Proteste von 2010 ist bemerkenswert, da sie die Ideologie des Majimaji-Widerstands aus der Kolonialzeit nachahmten. So erinnerte die Drohung der  Bibi wa Msimbati bekannten Ritualistin, das mit Gewalt genommene Gas werde sich in Wasser verwandeln, an die Ideologie der Majimaji- von 1905-07, als die Widerstandskämpfer glaubten, die Gewehre der Deutschen würden sich in Wasser verwandeln. Bibi wa Msimbati spielte eine ähnliche Rolle wie der Majimaji-Anführer Kinjikitile Ngwale: Sie war ein Mobilisierungsfaktor, der die Jugend zusammenhielt und den Verlauf der Proteste bestimmte. Der Protest endete nach einem Besuch von  Premierminister Kayanza Peter Pinda, der den Menschen im Süden Tansanias Entwicklung versprach. Dies erwies sich jedoch als ein kurzlebiger Traum. Im Jahr 2015 war der Süden Tansanias wieder eine wirtschaftlich rückständige Region, und das ist er bis heute geblieben.

Dieses Beispiel zeigt  die langfristigen Folgen der kolonialen Marginalisierung, denn der Süden Tansanias fühlte sich auch in der postkolonialen Zeit von der nationalen Entwicklung ausgeschlossen. Die Region erlebte während des Gasbooms einen kurzen Moment wirtschaftlicher Hoffnung, um sich dann wieder betrogen zu sehen, als die Regierung dem Transfer ihrer Ressourcen nach Dar es Salaam Vorrang einräumte, was als Fortsetzung externer Ausbeutung empfunden wurde. Die Parallelen zwischen dem Majimaji-Widerstand und den Protesten von 2010 gehen über die spirituelle Symbolik hinaus. Beide stehen für ein breiteres Muster des regionalen Widerstands gegen externe Kräfte, die lokale Ressourcen zum Nutzen anderer ausbeuten und die lokale Bevölkerung verarmen lassen. Die drohende Abspaltung im Jahr 2010 macht deutlich, wie tief die Wunden wirtschaftlicher und politischer Vernachlässigung sitzen und erinnert an die Frustrationen, die den Majimaji-Widerstand ein Jahrhundert zuvor angefacht haben.

Kolonialismus und Landnutzungskonflikte im Nyerere-Park

Der Kolonialismus untergrub die traditionelle Wirtschaft im Süden Tansanias, indem er eine ausbeuterische Politik verfolgte, die die Abhängigkeit von den kolonialen Strukturen fördern sollte. In Regionen mit wertvollen natürlichen Ressourcen wie Kautschuk oder Wild führten die kolonialen Verordnungen häufig zu Zwangsumsiedlungen und trennten die Gemeinschaften von ihrem Land. Der kürzlich umbenannte Nyerere Park (ehemals Selous Game Reserve) ist ein Beispiel für dieses Erbe. Mit einer Fläche von fast 50.000 km2 ist er eines der größten Naturschutzgebiete Afrikas und macht etwa 6 Prozent der gesamten Landmasse Tansanias aus. Das Gebiet wurde erstmals 1896 vom deutschen Gouverneur Hermann von Wissmann unter Schutz gestellt und 1982 zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt. Die Konflikte um den Ausschluss der Gemeinschaft von ihrem angestammten Land, ihrem kulturellen Erbe und ihren Ressourcen sind nach wie vor aktuell und anhaltend. Die jüngsten Entwicklungen haben die Spannungen verschärft. Nach dem Bau des Wasserkraftprojekts an der Stiegler's Gorge am Rufiji-Fluss erwog die UNESCO, den Park aufgrund von Umweltbedenken aus dem Verzeichnis zu streichen, während die lokalen kulturellen Konflikte übersehen wurden.

Die ungelösten Spannungen zwischen Naturschutz und Gemeinschaft im Nyerere-Park weisen auf allgemeine Widersprüche zwischen Naturschutz und den Rechten lokaler Gemeinschaften hin. Die Menschen im Süden Tansanias sind sich ihrer angestammten Wurzeln innerhalb des Parks bewusst, sehen sich jedoch mit Ausgrenzung konfrontiert, was die Konflikte um Landnutzung, Verteilung der Gewinne und Vorfälle im Zusammenhang mit Wildtieren verschärft. Die deutsche Regierung finanziert weiterhin Schutzmaßnahmen, aber die Vorteile des Parks sind nach wie vor zu Gunsten internationaler Interessen verzerrt. Die Bevorzugung der Jagd auf Wildtiere für Touristen führt zu einer weiteren Marginalisierung der lokalen Gemeinschaften und zur Aufrechterhaltung historischer Missstände. So wurden beispielsweise Menschen, die in der Nähe des Parks leben, von wilden Tieren getötet, und die Zerstörung von Ernten ist weit verbreitet. Armut und Hunger prägen die Dörfer in der Umgebung von Selous. Der Park hat kein ausgewiesenes Gebiet, in dem die Einheimischen seine natürlichen Ressourcen wie Wild und Holz zugreifen dürfen. Dafür sind strenge Genehmigungen erforderlich, die sich nur Unternehmen und wohlhabende Einzelpersonen leisten können. Auch dies steht im Zusammenhang mit dem Majimaji-Krieg. Wie Thaddeus Sunseri argumentiert, erzwang die koloniale Eroberung den Rückgang der Elefantenjagd und des Elfenbeinhandels, der sich als ein Hauptfaktor im Majimaji-Widerstandskrieg erwies. 

Geplünderte Artefakte

In den frühen 1900er Jahren kam es im Süden Tansanias zu einem der bedeutendsten kolonialen Raubzüge, als deutsche Paläontologen die heilige Stätte Tendaguru in der Region Lindi ausgruben. Unzählige Dinosaurierfossilien wurden entnommen und nach Deutschland verschifft. Bis heute bilden sie das Rückgrat der weltberühmten Dinosaurierausstellung des Berliner Naturkundemuseums, die wissenschaftliches Verständnis fördert und weltweites Interesse erregt. Deutschland profitierte davon, während der Süden Tansanias von seinem reichen paläontologischen Erbe abgeschnitten wurde. Die Tendaguru-Fossilien gelten als einer der bedeutendsten Dinosaurierfunde weltweit und bleiben ein eklatantes Beispiel für koloniale Ungerechtigkeit. Der mit den Fossilien verbundene Reichtum, das Prestige und das Bildungswissen wurden den lokalen Gemeinschaften vorenthalten, die stattdessen mit ansehen mussten, wie ihr kulturelles Erbe ausgelöscht wurde. Trotz der Bedeutung der Stätte bleibt sie in Tansania unbekannt, während Europa weiterhin von ihrem Erbe profitiert. Die Bemühungen um eine formelle Anerkennung der Tendaguru-Stätte als UNESCO-Welterbe gehen nur langsam voran, und die mit der Plünderung verbundenen historischen Ungerechtigkeiten sind noch immer nicht aufgearbeitet. Die Geschichte von Tendaguru ist eine deutliche Erinnerung daran, wie die Kolonialgeschichte die Gegenwart weiterhin prägt, da der Süden Tansanias mit den anhaltenden Auswirkungen der kolonialen Ausbeutung zu kämpfen hat. Die Fossilien zurückzuführen und sicherzustellen, dass Tansania von ihrem Wert profitiert, könnte dazu beitragen, dieses Vermächtnis der Plünderung zu beseitigen.

Der Weg nach vorn

Um die anhaltenden Auswirkungen des Kolonialismus im Süden Tansanias zu bekämpfen, ist ein vielschichtiger Ansatz erforderlich. Erstens müssen neue Rahmenbedingungen die Beteiligung der lokalen Gemeinschaften an der Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen in den Vordergrund stellen, um einen gerechten Nutzen zu gewährleisten und ressourcenbedingte Konflikte zu verringern. Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, einschließlich Straßen, Gesundheitswesen und Bildung, sind dringend erforderlich, um die sozioökonomische Marginalisierung der Region und ihre Anfälligkeit für Radikalisierung zu bekämpfen. Auch die Wiederherstellung des kulturellen Erbes ist von entscheidender Bedeutung. Die Politik der Kolonialzeit hat die Gemeinschaften von ihrem angestammten Land und ihren Symbolen entfremdet, was zu einem generationenübergreifenden Trauma geführt hat. Die Bemühungen sollten sich darauf konzentrieren, die von deutschen Kolonialisten geplünderten Tendaguru-Fossilien zurückzugewinnen und sicherzustellen, dass Tansania von ihrem kulturellen und wissenschaftlichen Wert profitiert. Dies wäre ein erster Schritt zur Beseitigung der langjährigen Ausbeutung der Region

Nancy Rushohora ist Dozentin in der Abteilung für Archäologie und Denkmalpflege an der Universität Dar es Salaam, Tansania. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf dem Kolonialismus und seinen Nachwirkungen.