Die Einhegung dschihadistischer Bedrohungen in Côte d’Ivoire: ein Erfolg auf Zeit?
Megatrends Spotlight 40, 08.10.2024Dschihadistische Gewalt aus dem Sahel greift nicht flächendeckend auf die westafrikanischen Küstenländer über. Während Togo und Benin zunehmend im Visier sind, ist das Gegenteil in Côte d’Ivoire (und Ghana) der Fall. Diese positive Entwicklung steht jedoch auf tönernen Füßen, schreibt Denis Tull.
Im Zeitraum von 2020 bis 2022 war der Norden der Côte d’Ivoire Ziel mehrerer Attacken, die der al Qaida-nahen Katiba Macina zugeschrieben wurden. Bei dem schwerwiegendsten Angriff töteten die Dschihadisten im Juni 2020 14 ivorische Militärs in dem grenznahen Dorf Kafolo. In der Folge schnürte die Regierung ein umfassendes Maßnahmenpaket, um der dschihadistischen Bedrohung zu begegnen. Seit Mitte 2022 ist es zu keinem Angriff in Côte d’Ivoire gekommen, unter anderem dank erhöhter Sicherheitsmaßnahmen. Allerdings hat die starke Präsenz von Sicherheitskräften im Norden nicht nur gute Seiten. Wie ist die Sicherheitslage zu beurteilen und inwieweit ist sie ein Erfolg ivorischer Terrorismusprävention und Bekämpfung?
Sicherheitspolitische Maßnahmen sind das Kernstück der ivorischen Regierungspolitik, um das Eindringen dschihadistischer Gruppen aus den Nachbarländern zu bekämpfen. Abidjan hat die Präsenz von Sicherheitskräften und Militärs in den nördlichen Regionen qualitativ wie quantitativ massiv verstärkt. Die Zahl der Polizisten in der Region wurde seit 2020 mindestens verdoppelt (auf ca. 4.000), die Stärke der Gendarmerie verdreifacht (auf ca. 10.000). Zusätzlich wurden weitere 1.500 Soldaten in den Norden verlegt. Ausstattung und Ausrüstung von Militär- und Polizeieinheiten wurden verbessert (Drohnen, Fahrzeuge etc.). Zudem wurde eine „Einsatzzone Nord“ unter der Führung eines Generals eingerichtet, der bei Bedarf alle operativen militärischen und sicherheitspolitischen Maßnahmen koordinieren soll. Desweiteren wurden alle relevanten nachrichtendienstlichen Erkenntnisse unter dem Dach des Centre de renseignement opérationnel antiterroriste (CROAT) gebündelt. Mehr noch als repressive Kapazitäten betrachten Regierungsvertreter effektive Informationsbeschaffung als Schlüssel zum Erfolg. Dafür seien gute Beziehungen zwischen Bürger*innen und Behörden bzw. Sicherheitskräften essentiell. In einem Land, das immer noch mit den Nachwehen eines Bürgerkriegs (2002-2012) zu kämpfen hat, liegt dies nicht auf der Hand.
Neben dem sicherheitspolitischen Fokus hat die Regierung eine Reihe von sozioökonomischen Programmen mit einem Finanzvolumen von ca. €49 Millionen (2022-2025) ins Werk gesetzt, die als Ergänzung der sicherheitspolitischen Maßnahmen verstanden werden. Zusätzlich zu den ohnehin schon seit einigen Jahren laufenden Investitionen in Infrastrukturen (u.a. Straßen- und Stromnetze) umfasst dies vor allem Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, berufliche Weiterbildungen, Mikroprojekte und Kreditangebote für Kleinunternehmer. Ob diese kurzfristigen Maßnahmen, die man aus Postkonfliktkontexten kennt, die gewünschte stabilisierende Wirkung entfalten, ist fraglich. Zweifel gibt es auch deshalb, weil die Koordinierung und Steuerung ziviler und entwicklungspolitischer Maßnahmen nicht in ausreichendem Maße gewährleistet zu sein scheint. Im Bereich der „Stabilisierung“ des Nordens der Côte d’Ivoire haben sich viele Geber und Nichtregierungsorganisationen ein großes Betätigungsfeld erschlossen. Bereits heute kritisieren sowohl lokale Beobachter als auch mancher Diplomat ein „unablässiges Ballett“ von Organisationen, die sich teilweise bereits auf den Füßen stünden.
Der Rückgang von Angriffen ist zweifellos ein Teilerfolg. Allerdings stellen sich auch Regierungsvertreter die Frage, ob und inwiefern dies tatsächlich ein Erfolg der eigenen Politik ist oder ob er andere bzw. weitergehende Ursachen hat.
Ein relevanter Erklärungsfaktor für die positive Entwicklung der Sicherheitslage könnte das strategische Kalkül der dschihadistischen Gruppen sein. Nach dieser Lesart ist Côte d’Ivoire möglicherweise zumindest kurzfristig keine Priorität für die Dschihadisten. Neben Burkina Faso, Mali und Niger, die weiterhin im Mittelpunkt stehen, konzentrieren sich die Dschihadisten unter den Küstenstaaten auf vergleichsweise „weichere“ Ziele wie Togo und insbesondere Benin, deren Sicherheitsorgane vermutlich über weniger Kapazitäten verfügen. In Benin kam es 2023 zu 166 Angriffen durch Dschihadisten (durchschnittlich 14 Angriffe/Monat). Im laufenden Jahr ist der Trend leicht rückläufig (9 Angriffe/Monat).
Der Status Quo ist aus ivorischer Sicht zwiespältig: solange die Dschihadisten sich auf weichere Ziele konzentrieren, ist Côte d’Ivoire vergleichsweise wenig gefährdet; klar ist aber auch, dass die Erfolge dschihadistischer Gruppen im Sahel in der Tendenz konzentrische Kreise ziehen, die auch Côte d‘Ivoire über kurz oder lang wieder erreichen können. Nirgendwo wird dies deutlicher als im Nachbarland Burkina Faso, wo mittlerweile mehr als die Hälfte des nationalen Territoriums der Kontrolle der Junta entglitten ist. Sowohl mit Mali als auch mit Burkina Faso teilt Côte d’Ivoire lange und weitgehend unkontrollierte Grenzen (532 km respektive 584 km). Angesichts der Zunahme dschihadistischer Angriffe in den südlichen Landesteilen Malis (Kayes, Koulikoro, Ségou, Sikasso) und Burkina Fasos (Cascades, Sud-Ouest, Hauts-Bassins) steigt daher auch die Bedrohungslage für Côte d’Ivoire. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen berühren bereits den Norden des Landes. Die Zahl burkinischer Flüchtlinge in Côte d’Ivoire hat sich seit 2022 mehr als verdreifacht. Derzeit halten sich 58.000 Flüchtlinge in den Distrikten Tchologo und Boukani auf. Zwar wurden sie bislang von lokalen Gemeinschaften und Regierung relativ gut aufgenommen. Aber Sicherheitskreise sehen in den Fluchtbewegungen ein sicherheitspolitisches Risiko. Das erklärt, warum Abidjan das Management der Flüchtlinge nicht internationalen Hilfsorganisationen überlassen hat, sondern darauf beharrte, ein eigenes Aufnahme- und Registrierungsprogramm zu etablieren. Die Tatsache, dass im Juli dieses Jahres 167 burkinische Flüchtlinge ausgewiesen wurden, verweist auf die angespannte Lage.
Aus ivorischer Sicht erschöpft sich das Problem im Sahel jedoch nicht in unmittelbaren sicherheitspolitischen Risiken. Die Militärjuntas im Sahel haben ihre antagonistische Haltung gegenüber den meisten Nachbarn zum Markenkern ihrer Außenpolitik gemacht. Die bilateralen Beziehungen zwischen Côte d'Ivoire und den Militärregimen in Mali und Burkina Faso befinden sich auf einem Tiefpunkt. Die Sicherheitszusammenarbeit ist völlig zum Erliegen gekommen und bestenfalls informelle und punktuelle Kontakte bestehen im Grenzgebiet. Besonders schlecht sind die Beziehungen zwischen Côte d’Ivoire und Burkina Faso. Rhetorische Breitseiten aus Ouagadougou in Richtung Abidjan bis hin zu Scharmützeln zwischen Sicherheitskräften im Grenzgebiet lassen zumindest derzeit an eine strukturierte grenzüberschreitende Bekämpfung der dschihadistischen Gruppen nicht denken. Diese Situation erleichtert den Dschihadistengruppen ihr Handwerk.
Ausbleibende Attacken bedeuten keineswegs, dass der Norden der Côte d’Ivoire sich in Sicherheit wiegen kann. Die Präsenz von Mitgliedern dschihadistischer Gruppen im Norden gilt als verbürgt. Ähnlich wie in Ghana nutzen die Dschihadisten die grenznahen Gebiete im Norden des Landes als Rückzugs-, Ruhe- und Rekrutierungsraum sowie für logistische Zwecke. Auch die finanziell attraktive Beteiligung an unreguliertem Handel (Gold, Rinder) ist nachgewiesen. Über verschiedene Modalitäten (Raub, Besteuerung, Schutzgelderpressung und direkte Investitionen) haben sich Dschihadisten in den lokalen Wirtschaftskreisläufen festgesetzt. Grenznahe Netzwerke und deren Aktivitäten, die ohnedies auf informellen oder illegalen Praktiken beruhen (u.a. Schmuggel, Diebstahl), sind dabei besonders anfällig für das Eindringen dschihadistischer Akteure. Die „Jihadisierung von Banditentum“ umschreibt dabei die gewaltsame Aneignung von Ressourcen. Sie umfasst keineswegs nur dschihadistische Anhänger, sondern ein potentiell breites Spektrum lokaler Akteure (Schmuggler, Banditen, Milizen, Schürfer, Mittelsmänner etc.), die teils opportunistisch agieren, sich aber oft unter Zwang mit gewaltüberlegenen Dschihadisten arrangieren müssen, wollen sie nicht gänzlich aus Märkten verdrängt werden. Um Mechanismen und Dynamiken der dschihadistischen Expansion nachvollziehen zu können, sind diese politökonomischen Zusammenhänge wichtiger als Armutsindikatoren, auch wenn zum Beispiel die Region Tchologo im Grenzgebiet zu Burkina Faso mit 62,8% eine der höchsten Armutsraten des Landes aufweist.
In diesem Kontext stellt die erhöhte Präsenz von Militär und Sicherheitskräften im Norden ein zweischneidiges Schwert dar. Einerseits scheint sie dazu beizutragen, dass die Wahrnehmung der Sicherheitslage sich verbessert hat. Andererseits sind die Klagen lokaler Bürger*innen über Erpressungen und korrupte Praktiken Legion. Dies belastet das gesellschaftliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte, auf das diese für die Akquise von sicherheitsrelevanten Informationen angewiesen sind. Zahlreiche Straßensperren, an denen Gelder von Bürger*innen und Händler*innen erpresst werden, untergraben auch wirtschaftliche Lebensgrundlagen. Dass ivorische Militärs und Sicherheitskräfte damit auch eigene finanzielle Interessen bedienen, liegt angesichts der Häufigkeit von Straßensperren auf der Hand, erst recht in der Nähe von Märkten und Goldminen. In einem Fall haben Beobachter 14 Straßensperren auf einer Länge von nur 24 Kilometern gesichtet (Tengréla-Papara). Auch Flüchtlinge sind Opfer von Erpressung. Rund ein Drittel aller burkinischen Flüchtlinge hat angegeben, beim Grenzübertritt illegal zur Kasse gebeten worden zu sein. Rund 60% der Geflüchteten sind Peul, die in Burkina Faso wie nahezu überall in der Region unter Generalverdacht stehen, weil ein großer Teil der Dschihadisten aus dieser Gruppe stammt. Auch im Norden der Côte d’Ivoire sind es vor allem Peul, die von Sicherheitskräften verdächtigt und festgesetzt werden. Die Erfahrungen in Mali haben indes gezeigt, dass diskriminierende und willkürlich repressive Maßnahmen den Zulauf zu Dschihadisten verstärkt hat.
Auch wenn Côte d’Ivoire spätestens seit dem Anschlag in Grand-Bassam (2016) in das Visier dschihadistischer Gruppen gerückt ist, sollte das Land nicht nur durch das Prisma dschihadistischer Risiken betrachtet werden. Aufmerksamkeit verdient auch der größere nationale politische und ökonomische Kontext. Nach dem Ende des Bürgerkrieges (2002-2012) ist es der Regierung unter Präsident Alassane Ouattara zwar gelungen, eine Form von politischer Hegemonie zu etablieren. Dies bedeutet aber nicht notwendigerweise strukturelle Stabilität. Die Militärrevolten von 2017 und die Wahlen 2020, bei denen über 100 Menschen ums Leben kamen, haben die Fragilität des politischen Systems offenbart. Der Unmut über Ouattaras verfassungsrechtlich und politisch umstrittene Kandidatur ist nicht verklungen und könnte anlässlich der Präsidentschaftswahlen 2025 erneut aufflammen im wahrscheinlichen Fall, dass der 82-Jährige erneut antritt. Die Frustration über die Einschränkung politischer Freiheiten und die Beschränkung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten ist ohnehin schon groß. Vor allem aber sollte die soziale und wirtschaftliche Lage nicht unterschätzt werden. Zwar erzielte Côte d’Ivoire über das letzte Jahrzehnt mit durchschnittlich 6,7% hohe Wachstumsraten, aber die Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage (Armut, Kaufkraft, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit) ist massiv und besitzt – wie schon zuletzt in Nigeria und Kenia gesehen – große Sprengkraft.
Dr. Denis M. Tull ist Projektleiter von Megatrends Afrika und Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten an der SWP.
Der Autor dankt Paul Bochtler (SWP) für die Analyse der ACLED-Daten, auf der die Grafik basiert.
Dschihadistische Gewalt hat in der Sahelregion im letzten Jahrzehnt stark zugenommen. Neben militärischen Antiterroroperationen suchte Nigers zivile Regierung unter Präsident Mohamed Bazoum (2021–2023) auch den Dialog mit Dschihadisten. Seit Anfang des Jahres 2022 gab ein deutlicher Rückgang von tödlichen Anschlägen Hoffnung auf erste Erfolge der dualen Strategie. Doch der Putsch vom Juli 2023 und die erhebliche Verschlechterung der Sicherheitslage seither verdeutlichen die Fragilität der ausgehandelten Arrangements.
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doi:10.18449/2023MTA-AP01
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doi:10.18449/2022MTA-PB08