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Über die Hauptstädte hinaus: Einblick in Afrikas Sekundärstädte

Megatrends Spotlight 33, 18.06.2024

Sekundärstädte sind für Urbanisierungsdynamiken in Afrika zunehmend von Bedeutung. Zugleich sind Afrikas Hauptstädte noch immer zentral, wenn es um wirtschaftliche und politische Entwicklungen geht. In diesem Megatrends Afrika Spotlight plädieren Lena Gutheil und Sina Schlimmer für eine Politik, die die Komplementarität beider Stadtformen berücksichtigt.

In den letzten zehn Jahren haben Forscher*innen und politische Entscheidungsträger*innen zunehmend die Bedeutung von Sekundärstädten für Urbanisierungstrends in Afrika unterstrichen. Dies beruht vor allem auf demografischen Faktoren: Sekundäre und intermediäre Städte wachsen im afrikanischen Kontext derzeitig am schnellsten. Mit jährlichen Bevölkerungswachstumsraten von bis zu 9 % spiegeln die mittelgroßen Städte die rasante Territorialentwicklung des Kontinents wider. Expert*innen sehen deshalb in ihnen "Afrikas nächste große Investitionsmöglichkeit".

Sekundärstädte bieten jedoch auch andere Chancen. Da ihr Territorium und ihre Governance-Strukturen noch nicht so weit entwickelt sind wie die der Megastädte, sehen politische Analyst*innen noch Spielraum für eine adäquatere Stadtplanung, zum Beispiel für die Einführung von integrativeren und partizipativeren Ansätzen. Dies liegt auch daran, dass in Sekundärstädten mehr Land für die Stadtentwicklung zur Verfügung steht. Darüber hinaus wird erwartet, dass Sekundärstädte einen Teil des Migrationsdrucks auf Megastädte verringern können, sobald sie an Attraktivität gewinnen.

Auffallend an diesem neuen Interesse an sekundären städtischen Agglomerationen ist die Abkehr von den politischen und wirtschaftlichen Hauptstädten Afrikas wie Dakar, Nairobi und Lagos. In diesem Spotlight befassen wir uns kritisch mit diesem Wandel, indem wir zunächst die verschiedenen Bedeutungen und Definitionen dieser Stadtkategorie untersuchen. Wir argumentieren, dass sekundäre Städte am besten in Bezug auf ihre Funktionalität und nicht anhand ihrer demografischen Merkmale zu verstehen sind.

Denn: Die Funktionen von Sekundärstädten unterscheiden sich oft grundlegend von denen der Hauptstädte, ihre Entwicklung kann aber nicht isoliert betrachtet werden. Stadtpolitik sollte sich daher nicht nur auf eine der beiden Stadtkategorien konzentrieren, sondern vielmehr einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, der die Wechselwirkungen und Komplementaritäten beider Kategorien berücksichtigt.

Die Politik hinter der Kategorisierung von Städten

Abgesehen von der Tatsache, dass Sekundärstädte schneller wachsen als Hauptstädte, gibt es kaum einen Konsens darüber, wie sie zu definieren sind. Im Wesentlichen begreifen wir sie darüber, was sie nicht sind: Der Begriff "Sekundärstadt" oder "Stadt der zweiten Reihe" wird meist für größere Städte verwendet, die nicht die wirtschaftliche oder politische Hauptstadt eines Landes sind.

Wie der Begriff schon sagt, sind Sekundärstädte Teil einer hierarchischen Klassifizierung von Städten, die meist durch die Bevölkerungsgröße oder -dichte, durch ihre Funktionen oder andere administrative oder historische Faktoren bestimmt wird. Laut UN-Habitat umfasst eine Sekundärstadt 100.000 bis 500.000 Einwohner*innen. Diese Definition stammt aus den 1950er Jahren und es ist fraglich, ob sie heute noch anwendbar ist. Die Bevölkerungszahlen von Sekundärstädten sind von Land zu Land unterschiedlich. In den Sekundärstädten Chinas und Nigerias leben beispielsweise mehrere Millionen Menschen, während Sekundärstädte in Dschibuti weniger als 50.000 Einwohner*innen haben.

Der Begriff „mittelgroße Stadt“ bezieht sich auf die demografische Variable, während sogenannte „intermediäre Städte“ auch durch ihre geografische Lage, ihre Geschichte oder ihre wirtschaftlichen und sozialen Merkmale charakterisiert werden. Intermediäre Städte spielen oft eine besondere Rolle als Teil eines größeren Städtenetzwerks, zum Beispiel als wirtschaftliche und administrative Knotenpunkte zwischen größeren Städten und dem ländlichen Umland. Der Begriff "Vermittlung" unterstreicht auch die Interaktion zwischen einer Stadt und ihrem (un)mittelbaren Umfeld, was sich auch in dem Begriff “urbaner Mittelgrund” widerspiegelt. Differenziertere funktionale Klassifizierungen auf Grundlage räumlicher Merkmale definieren spezifische Arten von Städten, wie subnationale städtische Zentren, großstädtische Clusterstädte oder sekundäre Korridorstädte.

Auch wenn diese Bezeichnungen aufgrund ihrer Unschärfe willkürlich erscheinen, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einstufung von Städten in der Regel gravierende politische Auswirkungen hat. Wenn kleine Gemeinden offiziell zu städtischen Gebieten werden, weil sie eingemeindet oder einer Metropolregion zugeordnet werden, verändern sich die Verwaltungsstrukturen. Diese Prozesse sind geprägt von Institutionenbildung und politischen Machtverschiebungen, die wiederum einen fruchtbaren Boden für Konkurrenz und Kompetenzüberschneidungen schaffen. Untersuchungen aus der Demokratischen Republik Kongo zeigen etwa, wie der Umwandlungsprozess von Dörfern in Städte zu gewalttätigen Ausschreitungen führen kann. Studien zu Südafrika weisen darauf hin, dass nicht alle zusammengeschlossenen Gemeinden von der Zusammenlegung in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen oder die politische Vertretung profitieren.

Der Wettbewerb findet nicht nur auf administrativer und politischer Ebene statt, sondern auch zwischen den Städten selbst – insbesondere wenn es darum geht, Mittel von der nationalen Regierung zu erhalten. Selbst in dezentralisierten Kontexten sind die Kommunen meist nicht in der Lage, genügend eigene Finanzmittel zu generieren, und oft abhängig von unregelmäßigen und unvorhersehbaren Finanztransfers der nationalen Regierung.

Hauptstädte haben die meisten Einwohner, doch Sekundärstädte wachsen am schnellsten

Trotz ihres rasanten demografischen Wachstums sind Sekundärstädte keine alleinstehende Kategorie, sondern sollten als Teil einer breiteren städtischen Dynamik verstanden werden. Betrachtet man beispielsweise die Verteilung der Stadtbevölkerung, so stechen die afrikanischen Metropolen nach wie vor hervor: In mehr als der Hälfte aller afrikanischen Länder leben 30 % der Stadtbevölkerung in der größten Stadt.

Was die Anzahl der Städte betrifft, so hat die überwältigende Mehrheit (91 %) aller städtischen Ballungsräume in Afrika weniger als 100.000 Einwohner. Gleichzeitig beherbergen diese 91 % der Agglomerationen nur 31 % der städtischen Bevölkerung (siehe Grafik). 

Betrachtet man die jährlichen Wachstumsraten, so sind es vor allem kleinere und mittelgroße Städte, die am schnellsten wachsen. Kleinere Städte können ihre Bevölkerung innerhalb von 10 Jahren leicht verdoppeln. Dies ist sowohl auf das natürliche Bevölkerungswachstum als auch auf Migration aus ländlichen Gebieten zurückzuführen. Auch wenn Großstädte ihr größtes Wachstum bereits hinter sich gelassen haben, bedeutet das nicht, dass sie in absoluten Zahlen hinterherhinken. Afrikanische Großstädte zählen in absoluten Zahlen die meisten Neuankömmlinge pro Jahr. Kinshasa beispielsweise nahm zwischen 2000 und 2020 durchschnittlich 410.000 neue Einwohner pro Jahr auf. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sekundärstädte zwar höhere Wachstumsraten aufweisen, die Hauptstädte aber weiterhin einen erheblichen Teil der städtischen Bevölkerung anziehen.

Um adäquate Ansätze für städtische Governance zu formulieren, müssen nationale und lokale politischen Entscheidungsträger*innen geeignete und klare Definitionen der verschiedenen Stadtkategorien entwickeln und verwenden, die den demografischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten ihres Städtenetzes vor Ort entsprechen. Gleichzeitig müssen sie sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Städten unterschiedlicher Größe befassen.

Die Zukunft liegt in ganzheitlicher Stadtpolitik

Auch wenn Afrikas Sekundärstädte andere Funktionen als Hauptstädte wahrnehmen (die oft komplementär wirken), sollten sie trotzdem als Teil des größeren städtischen und wirtschaftlichen Netzwerks verstanden werden. 

Die Metropolregionen sind für einen Großteil des Wirtschaftswachstums in Afrika verantwortlich, und nationale Lieferketten sind hauptsächlich auf Exportaktivitäten in diesen großen Ballungsräumen ausgerichtet. Sekundäre Städte fungieren eher als Vertriebs- oder Logistikzentren für die Metropolregionen und sind so von importierten Konsumgütern und Dienstleistungen abhängig. Einige dieser Städte exportieren landwirtschaftliche Erzeugnisse oder Rohstoffe, andere agieren lediglich als Verwaltungszentren für die umliegenden Dörfer. Sie tragen auf ganz unterschiedliche Weise zur Volkswirtschaft bei, sie interagieren miteinander und ergänzen sich gegenseitig.

Diese Wechselwirkungen spiegeln sich im Stadt-Land-Kontinuum wider: Städtische und ländliche Gebiete sind sozial und wirtschaftlich miteinander verflochten, insbesondere durch den Personen- und Warenverkehr zwischen den Städten und ihrer ländlichen Umgebung. Es sind die ländlichen und stadtnahen Gebiete, die sich von den urbanen Zentren bis in die ländliche Peripherie erstrecken, wo sich kleine Agglomerationen zu Sekundärstädten entwickeln.

Damit Sekundärstädte florieren können, müssen sie komplementär zu den Metropolregionen spezifische Wirtschaftsprofile entwickeln: Sie sollten in Wertschöpfung investieren, interregionale Verbindungen aufbauen und die Konnektivität verbessern. Dies erfordert nicht nur die Entwicklung von physischer und sozialer Infrastruktur. Wichtig ist auch eine nationale Städtepolitik, die sich mit dem Städtenetz als Ganzem befasst und dabei die Komplementarität der verschiedenen Städtekategorien nutzt.

Nur wenige afrikanische Länder wie Marokko, Ghana, Ruanda, Senegal und Uganda haben eine nationale Städtepolitik entwickelt, die speziell auf die Entwicklung von Sekundärstädten ausgerichtet ist. In Ruanda und Senegal konzentriert sich die urbane Bevölkerung sehr stark in den Metropolen: beide Länder haben deshalb spezifische Strategien für die prioritäre Entwicklung ausgewählter Sekundärstädte entwickelt. Ruanda hat einen nationalen Fahrplan für die Entwicklung grüner Sekundärstädte entwickelt. Der Fahrplan sieht sechs Sekundärstädte vor, die wirtschaftliche Nischenaktivitäten entwickeln sollen, von denen auch die umliegenden Gebiete profitieren sollen. Bis 2050 sollen diese Städte CO2-neutral sein.

Spezifische politische Maßnahmen für Sekundärstädte sollten auch auf den Lehren basieren, die aus den Unzulänglichkeiten der Verwaltung von Metropolen gezogen wurden, insbesondere im Bereich der Stadtplanung.

In dezentrale Verwaltung investieren

Damit weitreichende Reformen wie in Ruanda oder Senegal umgesetzt werden können, brauchen Städte auch das richtige institutionelle Umfeld. Eine Analyse des weltweiten Städteverbands UCLG, die das institutionelle Umfeld für Städte und lokale Regierungen in Afrika bewertet, kommt zu dem Schluss, dass nur 12 von 53 Ländern ein günstiges oder eher günstiges institutionelles Umfeld für ihre Städte und lokalen Regierungen geschaffen haben, um der fortschreitenden Urbanisierung zu begegnen und die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen umzusetzen.

Dezentralisierungsreformen in Afrika haben zu erheblich mehr lokaler Demokratie geführt, jedoch hinkt die fiskalische Dezentralisierung hinterher. Viele Städte und lokale Regierungen müssen mit unregelmäßigen und intransparenten Finanztransfers der Zentralregierung umgehen und haben nicht das Mandat, lokale Steuern und Abgaben festzulegen und zu erheben. Dies führt dazu, dass afrikanische Städte im weltweiten Vergleich den höchsten Ausgabenbedarf haben, aber in Wirklichkeit die geringsten Investitionen tätigen. Überlegungen zur Verwaltung eines heterogenen städtischen Netzes, das sowohl aus Haupt- als auch Sekundärstädten besteht, sollten also Hand in Hand mit der Umsetzung solider Dezentralisierungsreformen gehen.

Eine Verbesserung der Datenlage zu den verschiedenen Städtekategorien ist überfällig, um adäquate Handlungsoptionen zu identifizieren. Das gestiegen Interesse an Sekundärstädten allein reicht hierbei nicht aus. Afrikanische Regierungen und ihre Partner müssen in eine solide Urbanisierungspolitik investieren, die dem Städtesystem des jeweiligen Landes gerecht wird. Dabei sind funktionale Definitionen für eine zielgerichtete Politik besser geeignet als starre demographische Klassifikationen. 

Gleichzeitig sollten die unterschiedlichen Bezeichnungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Klassifizierung von Städten wichtige politische Auswirkungen hat. Afrikanische Städte können die Herausforderungen, vor denen sie stehen, nur bewältigen, wenn sie ein förderliches politisches und institutionelles Umfeld schaffen.

Dr. Lena Gutheil ist Wissenschaftlerin von „Megatrends Afrika“ am German Institute of Development and Sustainability (IDOS). Dr. Sina Schlimmer ist Research Fellow am Institut français des rélations internationales (Ifri).