Der Einfluss externer Akteure am Horn von Afrika wird meist anhand materieller Ressourcen festgemacht. Indiens Rolle in der Region aber stützt sich vorwiegend auf die nicht-materiellen Faktoren Erinnerungskultur und soziale Vernetzung. In unserem kürzlich im South African Journal of International Affairs erschienenen Artikel „Power, Status and Memory in Indo-African relations” widmen wir uns der Bedeutung dieser Faktoren für die Beziehungen zwischen Indien und Kenia.
Geht es um Frieden, Entwicklung und Stabilität am Horn von Afrika richten viele Analysen derzeit besonderes Augenmerk auf den Einfluss externer Akteure. Dabei steht zum Beispiel die wirtschaftspolitische Konkurrenz zwischen den Golfstaaten und der Türkei im Vordergrund, die militärischen Stützpunkte der USA, Chinas, Israels und Frankreichs oder der Zugriff externer Akteure auf strategisch wichtige Seehäfen am Golf von Aden, wie den Berbera Hafen in Somalias Teilregion Somaliland. Auch große Infrastrukturprojekte im Rahmen von Chinas neuer Seidenstraße in Afrika (BRI) finden viel Beachtung. Wenn auf Afrika+1 Gipfeln Staatvertreter*innen Investitionen und Kooperationsprojekte zusagen, werden diese ebenfalls zur Bewertung des Einflusses dieser Akteure in Afrika herangezogen.
Diese Analysen haben gemein, dass sie einen Fokus auf materielle Einflussmittel legen, mit denen geopolitische Interessen durchgesetzt und Wettbewerbsvorteile begründet werden: die Anzahl diplomatischer Vertretungen, die Höhe von Handelsvolumen sowie die Anzahl abgeschlossener Verteidigungsabkommen und gemeinsam durchgeführter Militärübungen. Unsere Forschung hingegen zeigt, dass diese analytische Perspektive für Akteure wie Indien, deren Einfluss sich zu einem großen Teil auf historisch gewachsene, nicht-materielle Faktoren stützt, zu kurz greift.
Ohne Militärstützpunkte und Großinfrastrukturvorhaben ist Indien selten mehr als eine Randnotiz in außen- und sicherheitspolitischen Analysen zum Einfluss externer Akteure am Horn von Afrika. In unserem kürzlich erschienenen Artikel „Power, Status and Memory in Indo-African relations” beschäftigen wir uns deshalb mit Indiens Rolle in der Region, mit Fokus Kenia. Unsere Gespräche vor Ort legen nahe, dass sich die Wahrnehmung des Einflusses Indiens zu großen Teilen auf (1) Erinnerung und Status und (2) soziale Vernetzung stützt. Vieles spricht dafür, dass diese immateriellen Einflussmittel in multipolaren Akteurslandschaften wie denen am Horn von Afrika zukünftig an Bedeutung gewinnen.
Indien und Kenia blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück. Sie verbindet der Seehandel über den Indischen Ozean, die Erfahrungen britischer Kolonialherrschaft, wechselseitige Migration und die politischen Kooperation zu Fragen der globalen Ordnung. Indische Arbeit*innen spielten zum Beispiel eine zentrale Rolle beim Bau der berühmten ersten Eisenbahnstrecke Kenia-Uganda und in der Administration Kenias während der britischen Kolonialherrschaft. Der überwiegend gewaltfreie Widerstand der indischen Unabhängigkeitsbewegung und Mahatma Gandhis politischer Aktivismus gegen die Diskriminierung von Asiat*innen in Südafrika galt den anti-kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen in vielen afrikanischen Staaten als Vorbild.
Auch auf der Bandung Konferenz afrikanischer und asiatischer Staaten 1955 spielte der damalige indische Premierminister Jawaharlal Nehru eine prominente Rolle. Das Gipfeltreffen legte den Grundstein für die Bewegung blockfreier Staaten während des Kalten Krieges und die Süd-Süd Solidarität. Indien zeichnete sich dabei in den Augen vieler afrikanischer Staaten durch seine aktive Rolle mit dem Status als glaubwürdige Vertreterin einer anti-kolonialen/anti-imperialen globalen Agenda aus.
Die gemeinsame Geschichte und der besondere Status Indiens sind wichtige Ressourcen heutiger indischer Außenpolitik vis-à-vis Ostafrika. Sie werden in Form einer gemeinsamen Erinnerungskultur historischer Ereignisse aufrechterhalten. Davon zeugen zum Beispiel Kulturveranstaltungen der Vereinigung kenianisch-indischer Freundschaft (KIFA) in Kooperation mit der indischen Hohen Kommission und Erinnerungsstätten wie die von Indien geförderte Mahatma Gandhi Memorialbibliothek an der Universität Nairobi.
Circa 80.000-100.000 Menschen in Kenia sind indischer Abstammung. Damit ist Kenia nach Südafrika der afrikanische Staat mit der größten ansässigen indisch-stämmigen Community. In vielen Wirtschaftszweigen der Industrie und des Handels sind Unternehmer*innen mit indischen Wurzeln überproportional stark vertreten, so zum Beispiel in der Pharmaindustrie, im Einzel- und Großhandel sowie in verarbeitenden Gewerben. Für ihre Beiträge zur sozio-ökonomischen Entwicklung Kenias und ihr Engagement für den Aufbau des Bildungs- und Gesundheitswesens wurden Asiat*innen – überwiegend Inder*innen – 2017 von Präsident Uhuru Kenyatta als 44ster Stamm Kenias anerkannt.
Diese soziale Vernetzung ist nicht gleichbedeutend mit harmonischen Beziehungen. Die Geschichte der indischen Migration nach Afrika ist auch von sozialer Distanz und gewaltsamen Zusammenstößen gekennzeichnet. 1972 etwa verwies der ugandische Machthaber Idi Amin alle Mitglieder der indischen Community des Landes. Dennoch bedeutet die sozio-ökonomische Integration indischer Communities in ostafrikanische Wirtschaftsstrukturen und die Nähe im Alltag auch ein potentielles Einflussmittel indischer Außenpolitik – ein Mittel, welches Indiens Premierminister Narendra Modi mittels einer aktiven Diaspora-Politik zunehmend zu aktivieren versucht.
Der Blick auf die historischen und sozialen Verbindungen zwischen Indien und Kenia verdeutlicht, dass sich die außenpolitischen Einflussmittel Indiens von denen anderer externer Akteure in der Region signifikant unterscheiden - dies gilt insbesondere für das Vereinigte Königreich und europäische Staaten mit einer Kolonialgeschichte in Afrika. Für Deutschland und die Europäische Union gilt es, das breite Spektrum materieller und nicht-materieller Einflussmittel der Akteure vor Ort umfassender auszuleuchten, auch mit Blick auf die eigene Geschichte in der Region. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um außen- und sicherheitspolitisches Handeln an gesellschaftliche und politische Debatten zur Multipolarität und zur Rolle externer Akteure am Horn von Afrika anzupassen.
Dr. Karoline Eickhoff ist Wissenschaftlerin bei „Megatrends Afrika“ und Teil der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Prof. Dr. Tobias Berger ist Juniorprofessor für Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Transnationale Politik des Globalen Südens am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.