Viele afrikanische Staaten sind abhängig von Nahrungs- und Düngemittelimporten aus Russland und der Ukraine. Doch mit dem Krieg kommt es zu Verknappung und Preisinflation. Das bedroht vielerorts die Ernährungssicherheit der Bevölkerung und koppelt ausreichende Versorgung an die Kaufkraft Einzelner. In unserem neuen Kiel Policy Brief (IfW) entwerfen wir Szenarien, wie sich die Getreideversorgung langfristig entwickeln könnte.
Mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen hatte sich die internationale Gemeinschaft das Ziel gesetzt, den Hunger weltweit bis 2030 abzuschaffen. Die Realität aber sieht anders aus. War die Ernährungssicherheit in einigen afrikanischen Ländern bereits vor Kriegsausbruch in der Ukraine bedroht, steht man nun vor existenziellen Problemen.
Denn auf der Liste der wichtigsten Getreideexporteure weltweit stehen die Ukraine und Russland ganz oben. Mehr als 80 Prozent der russischen Exporte entfallen auf Weizen. Die Landwirtschaft der Ukraine ist stärker diversifiziert und Kiew so auch beim Körnermais einer der bedeutendsten Lieferanten weltweit. Hinzu kommen Produkte wie Sonnenblumenöl und Dünger. Fallen diese Importe plötzlich weg, lassen sich die negativen Folgen in vielen afrikanischen Staaten nur schwer abmildern.
Starke Abhängigkeiten bestehen besonders dort, wo Armut und politische Instabilität die sozialen Strukturen belasten und Grundversorgung der Bevölkerung nicht gesichert ist. Wer den Großteil seines Einkommens für Nahrungsmittel ausgibt, den treffen Verknappung und Preisinflation besonders hart. In Ländern wie Kenia und Nigeria werden, laut Daten aus dem Jahr 2016, im Schnitt über 50 Prozent des monatlichen Einkommens für Lebensmittel aufgewendet. Auch Ägypten ist pro Kopf ein sehr großer Weizenkonsument und importiert etwa 80 Prozent aus Russland oder der Ukraine.
In anderen Ländern, besonders im tropischen Afrika, werden andere Kohlenhydratquellen vorgezogen. Daher wird hier weniger Weizen konsumiert. Die prozentuale Anhängigkeit von den Kriegsparteien, aber, bleibt dennoch hoch.
Das Kriegsgeschehen senkt unweigerlich die Produktionsmengen. Die stark mechanisierte ukrainische Landwirtschaft braucht wichtige Produktionsfaktoren wie Diesel. Dieser wird nun aber von der Armee verwendet. Landwirte können ihre Felder wegen des Konflikts nicht bestellen, weniger aussäen oder weniger düngen. Die Ernte fällt deutlich kleiner aus, ebenso wie die Exportmengen. Das verknappte Angebot lässt die Preise auf dem Weltmarkt steigen.
Gleichzeitig steigen die Handelskosten. Wichtige Häfen im Asowschen und im Schwarzen Meer sind vom Krieg betroffen oder der Seeweg durch Blockaden kaum zugänglich. Die Präsenz der russischen Marine trieb Versicherungssummen in die Höhe. Auch russische Häfen werden inzwischen weniger angelaufen. Vielen Reedereien ist das Risiko zu groß, Ziel militärischer Angriffe oder politischer Aktionen zu werden.
Und dann gibt es noch die politische Eingriffe: Die Ukraine, Russland und auch einige EU-Länder wie Ungarn haben Getreideexporte komplett oder zumindest in bestimmte Länder gestoppt. Diese Hürden im Handel reduzieren zusätzlich die exportierten Mengen und führen auf dem Weltmarkt zu steigenden Getreidepreisen.
Letztlich müssen auch indirekte Effekte einkalkuliert werden. Die Agrarproduktion ist auf bestimmte Betriebsmittel – sogenannte Inputs – wie Energie und Düngemittel angewiesen. Beides stammt oft aus Russland oder der Ukraine. Der Anstieg der Energiepreise, den wir weltweit beobachten, verteuert die Düngemittelproduktion. Besonders da Gas für die Ammoniakherstellung notwendig ist. Weltweit werden damit ertragssteigernde Maßnahmen im Agrarsektor weniger profitabel.
Gerade für Kleinbauern ist das problematisch. Sie verfügen oft über wenig finanziellen Puffer für Dünger und Saatgut und werden dadurch nicht mehr wie gewohnt düngen können. Ihre Ernten sind weniger ertragreich. Das Ergebnis: die produzierten Getreidemengen sinken weiter, die Preise steigen.
Dabei war die Ernährungssicherheit bereits vor Kriegsausbruch in vielen afrikanischen Staaten fragil. Seit mehreren Jahren steigen die globalen Lebensmittelpreise, da die Nachfrage schneller wächst als das Angebot. In den letzten zwei Jahren hat die COVID-19 Pandemie zu einem weltweiten Angebotsschock geführt und globale Lieferketten gestört. Die Folge auch hier: eine weltweit steigende Preisentwicklung.
Und dann sind da noch der fortschreitende Klimawandel und die damit verbundene Phänomene wie Dürren oder Heuschreckenplagen, die Menschen in Ostafrika weitere Schwierigkeiten bereiten. Anfang April warnte das Internationale Rote Kreuz außerdem vor Hungersnöten in Westafrika. In beiden Fällen werden schwere Krisen für die zweite Jahreshälfte 2022 erwartet.
Um die langfristigen Folgen und Zusammenhänge zu verstehen, haben wir am Kieler Institut für Weltwirtschaft die Getreideversorgung Afrikas mit dem Handelsmodell KITE (Kiel Institute Trade Policy Evaluation) simuliert. Betrachtet wurden Weizen und sonstiges Getreide wie Mais, Hirse, Gerste und Reis.
Eines der von uns modellierten Szenarien geht davon aus, dass die Ukraine künftig aufgrund von Zerstörung und Kriegswirtschaft in ihren Anbaumöglichkeiten für Getreide stark limitiert ist. Vorausgesetzt wird ein Rückgang der Produktivität um 50 Prozent. In Szenario 2 wird der Effekt gestiegener Transportkosten für den Handel sowohl mit der Ukraine (+50 Prozent) als auch mit Russland (+25 Prozent) berechnet. Und schließlich ein hypothetisches Szenario 3, das quantifiziert, wie sich die Situation verschärft, wenn Russland seine Exporte von Getreide komplett stoppt.
Wichtig für die Interpretation der Ergebnisse ist, dass es sich um ein Langfristmodell handelt. Die geschätzten Effekte in den Szenarien bilden die Situation ab, nachdem andere Produzenten ihre Anbaumengen aufgrund der gestiegenen Preise erhöht oder Anbau umgestellt haben.
Kurzfristeffekte wurden nicht berechnet. Man sollte davon ausgehen, dass sie deutlich stärker ausfallen, weil die Anpassung von Anbaumengen und -produkten mindestens einige Quartale dauern wird. Bereits jetzt stützen viele Berichte aus betroffenen afrikanischen Ländern über sehr stark steigende Preise diese Einschätzung.
Was also sind die grundlegenden Effekte? In allen Fällen kommt es in vielen afrikanischen Staaten zu höheren Preisen, insbesondere beim Weizen. Das betrifft Ägypten und Tunesien in besonderem Maße. Dort sind die Abhängigkeiten von Getreideimporten und der Pro-Kopf-Konsum am höchsten. Weizen ist tief in der lokalen Küche verankert. Deshalb ist nicht damit zu rechnen, dass die Bevölkerung auf andere Nahrungsmittel ausweicht. Es sind also durchaus Situationen wie im arabischen Frühling 2011 denkbar. Gestiegene Lebensmittelpreise hatten damals einen Teil der Proteste ausgelöst.
In deutlich ärmeren Ländern – beispielsweise Ruanda, Tansania, Mosambik, Kenia oder Kamerun – sind die berechneten Effektgrößen geringer. Das heißt aber nicht, dass der Schaden für die Menschen geringer ausfällt. Im Gegenteil: Vielerorts ist die Versorgung bereits angespannt oder nicht mehr gesichert. Im Vergleich zu nordafrikanischen Staaten verfügen Haushalte über weniger finanzielle Spielräume. Sie können nicht mit den steigenden Preisen mithalten und sich weniger Lebensmittel leisten.
Die Importe von Weizen würden in Ägypten und Tunesien langfristig um 13,3% bzw. 12,3% fallen. Weitere stark betroffene Länder sind Äthiopien, Togo und Mozambique. Wir erwarten, dass sich die Importe stark reduzieren, zwischen knapp 11% und knapp 8%. Bei anderen Getreiden wie Mais, die einerseits als Nahrungsmittel, aber auch bei der Fütterung für Vieh verwendet werden, sehen wir weitere Länder wie Kamerun, Südafrika, Guinea und dem Senegal bedroht.
Kommt ein russischer Exportstopp hinzu, so zeigen unsere Berechnungen auf, stehen Länder in Nordafrika ebenso wie in Sub-Sahara Afrika vor immensen Problemen. Ruandas Weizenimporte verringern sich in diesem Fall um fast die Hälfte (-48,4%). Der dortige Preis würde sich auf einem wesentlich höheren Niveau einpendeln, um mehr als ein Drittel (+39,6%) genau gesagt. Auch in Kenia (Importe -26,4%; Preise: +32,4%), in Tansania (Importe -36,9%; Preise +13,1%) und in Mosambik (Importe -21,4%; Preise: +15,1%) wären die Folgen bedrohlich. Weizen wird sich dort zu einem kaum bezahlbaren Gut entwickeln. Das hat dramatische Folgen für die Ernährungssicherheit.Die Effekte fallen in diesem Szenario deutlich stärker aus. Das liegt daran, dass die russische Landwirtschaft – weit mehr als die Ukraine – auf Weizen spezialisiert ist.
Global gesehen mangelt es auch nach der Invasion der Ukraine nicht an Lebensmitteln. Es ist eine Frage der Kaufkraft, ob sich jemand genügend Nahrung leisten kann. In den reichen Ländern leisten wir uns eine große Lebensmittelverschwendung und einen kalorisch und ökologisch betrachtet ineffizienten Fleischkonsum. Gleichzeitig bedroht der Preisanstieg auf den internationalen Agrarmärkten die Versorgung von ärmeren Haushalten in Entwicklungsländern.
Zuerst sollte nun bedrohte Haushalte in Afrika in den Blick genommen werden. Dies ist besonders ein Auftrag für den humanitären Sektor. Darüber hinaus sollten Länder versuchen, sich in ihrer Versorgung stärker zu diversifizieren. Das ist eine der wichtigsten Lektionen dem Ukraine-Krieg: Starke Abhängigkeit ganzer Länder von einzelnen Lieferanten birgt ein immenses Risiko für die Ernährungssicherheit.
Geopolitisch wird die Welt instabiler. So ist Diversifikation eine Investition in die langfristige Ernährungssicherheit. Dazu gehört auch – mit Blick auf den sich verstärkenden Klimawandel – die Lebensmittelproduktion vor Ort resilienter zu gestalten. Außerdem sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht international vorgehaltene strategische Nahrungsmittelreserven eine Option bieten, die negativen Kurzfristeffekte solcher Krisen abzumildern. Diese Reserven werden nicht von einzelnen Staaten, sondern von internationalen Organisationen verwaltet. Sie müssten aber vor Veto-Eingriffen einzelner Mächte geschützt werden, damit Konfliktparteien diese Reserven nicht kontrollieren können.
Prof. Dr. Tobias Heidland ist Projektleiter bei Megatrends Afrika und im Wirtschaftswissenschaftlichen Cluster Afrikaforschung tätig. Er leitet des Forschungszentrums "Internationale Entwicklung" am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW).
Sebastian Jävervall, Ph.D., ist als Postdoktorand im Forschungszentrum "Internationale Entwicklung" im Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) beschäftigt und arbeitet im Wirtschaftswissenschaftlichen Cluster Afrikaforschung mit.
Hendrik Mahlkow ist Doktorand am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) und arbeitet im Wirtschaftswissenschaftlichen Cluster Afrikaforschung mit.