Immer kleiner? Der Tschadsee, Boko Haram und das Narrativ der Klimakrise
Megatrends Spotlight 23, 06.03.2023Politische Entscheidungsträger*innen fordern die Rettung des Tschadsees. Sein Schrumpfen sei Ursache und Folge der Ausbreitung von Boko Haram. Doch Beweise für diesen Zusammenhang gibt es nur bedingt. Das Sicherheits-Narrativ birgt Risiken, erklärt Vincent Foucher in diesem Megatrends Afrika Spotlight.
Im Jahr 2018 veröffentlichte das Umweltprogramm der Vereinten Nationen einen Medienbericht mit dem Titel "The tale of a disappearing lake". Sein Befund schien überzeugend: In den letzten 60 Jahren habe sich die Größe des Tschadsees um 90 Prozent verringert. Die Schuldigen: eine Übernutzung des Wassers, die anhaltende Dürre und natürlich der Klimawandel. Die jihadistische Bewegung, die oft als Boko Haram bezeichnet wird, habe die Situation nur noch verschlimmert, so der Artikel. Dieses Narrativ hält sich weiter und steht im Mittelpunkt dieses Spotlight-Beitrags.
Über vier Jahre später ist das Thema immer noch aktuell. In einer Wahlkampfrede im November 2022 problematisiert Bola Tinubu, dass der Tschadsee verschwinde. Die nigerianische Regierungspartei All Progressives Congress (APC) hat ihn für die Präsidentschaftswahlen 2023 aufgestellt [Anmerkung der Redaktion: Der nigerianischen Wahlkommission INEC gab am 01. März bekannt, dass Tinubu die Wahl für sich entschieden hat]. Er wolle das seit langem geplante Transaqua-Projekt verwirklichen. Dabei soll der See über einen 2 400 km langen Kanal mit Wasser aus dem Kongobecken wiederaufgefüllt werden.
Das Transaqua-Projekt gibt es bereits seit den 1970er Jahren, doch in den 2010er Jahren wurde es als Lösung für die Austrocknung des Sees und den Boko-Haram-Aufstand wiederbelebt. Die Kosten für das Projekt werden auf rund 50 Milliarden US-Dollar geschätzt. Seit 2018 ist das Projekt der Tschadseebecken-Kommission (Lake Chad Basin Commission, LCBC) unterstellt, einem regionalen Gremium, dem alle Staaten des Beckens angehören. Seitdem kümmert sich die LCBC nicht mehr nur um wirtschaftliche Zusammenarbeit, ihrem ursprünglichen Mandat, sondern koordiniert auch das Vorgehen gegen Boko Haram.
Die Vorstellung, dass der Boko-Haram-Konflikt mit der Klimakrise zusammenhängt, ist in politischen Kreisen fest verankert. Sie sehen das Austrocknen des Tschadsees als spektakulärste Form der sich überschneidenden Krisen. Wissenschaftler*innen der internationalen Beziehungen nennen dies "securitisation", eine Versicherheitlichung der Debatte. Das Konzept beschreibt einen diskursiven Prozess, in dem ein Thema in eine Frage der "Sicherheit" umgedeutet wird.
Der Tschadsee ist ein geeigneter Ort, um über das unangenehme Zusammentreffen zwischen der Klimakrise, einer unbestreitbaren Tatsache auf globaler Ebene, und den Besonderheiten einer tiefgreifenden Sicherheitskrise nachzudenken. Der vorliegende Beitrag erörtert den fragwürdigen Charakter des Narrativs, dem politische Entscheidungsträger*innen in dieser Sache anhängen, und warum ihr Erfolg durchaus problematisch ist.
Dabei sind die Daten zum Tschadsee eindeutig: Er trocknet derzeit nicht aus. Wie der Geograf Géraud Magrin gezeigt hat, beruht der "Mythos des verschwindenden Sees" auf einer bemerkenswerten Ellipse: Darin wird der Höchststand des Wasserspiegels in den 1960er Jahren mit der aktuellen Situation verglichen. Die Jahrzehnte dazwischen bleiben eher unberücksichtigt. Das verdeckt die Tatsache, dass der Wasserstand in den 1970er und 1980er Jahren sogar noch niedriger war. Zumindest seit Anfang der 2010er Jahre füllt sich der See wieder, wie Pham-Duc und Kolleg*innen kürzlich bestätigten. Langfristige Niederschlagsvorhersagen sind oft unpräzise. Aber wenn es um den Tschadsee geht, zeigen sie eher eine Zunahme der Niederschläge als eine Dürre. Der Mythos vom verschwindenden See beruht darauf, dass Daten nicht vollständig ausgewertet wurden.
Magrin und andere Geographen, die die Produktionssysteme rund um den See erforschen, stellen auch eine weitere Schlüsselannahme politischer Entscheidungsträger*innen infrage: Sie betonen, dass die unbestreitbare Verringerung der Seeoberfläche im Vergleich zu seinem Höhepunkt in den 1960er Jahren nicht unbedingt eine rein negative Entwicklung darstellt. Sicherlich ist der Trend nachteilig für Fischerei und Bewässerungslandwirtschaft. Gleichzeitig stünde Landwirten aber nun sehr fruchtbarer Boden zur Verfügung. Die Landwirtschaft in dem Gebiet habe sich auf spektakuläre Weise ausweiten können.
Seit 2018 habe ich Dutzende von ehemaligen Kämpfern aus den beiden Fraktionen von Boko Haram in Nigeria, Niger und Kamerun interviewt. Nur einer gab an, das Klima sei ein direkter Faktor bei seiner Entscheidung gewesen, sich den Aufständischen anzuschließen. Ein junger Mann aus Niger beschrieb, wie in den ersten Tagen des Jihad von Boko Haram eine schreckliche Überschwemmung an den Ufern des Komadugu-Flusses einen Großteil seiner Ernten vernichtete. Der Beitritt zu Boko Haram für eine oder zwei Jahre böte ihm die Möglichkeit zu einem Neuanfang, glaubte er. Das unmittelbare Klimaproblem des Tschadsees scheint also nicht das Austrocknen, sondern die zunehmenden Klimaschwankungen zu sein: vor allem stärkere, aber kürzere Regenfälle. In diesem Fall veranlasste eine daraus resultierende Naturkatastrophe einen Mann, sich dem Jihad anzuschließen.
Die Geschichten, die die meisten von ihnen über ihre Zugehörigkeit zu Boko Haram erzählen, spiegeln den Wandel in der Bewegung selbst wider: ein harter Kern von Gläubigen, die sich gegen eine nigerianische Regierung auflehnten, die sie für korrupt, feindselig und gottlos hielten; Kinder, die von einem Verwandten in den Aufstand geführt wurden; Schüler*innen in Koranschulen, die von ihren Lehrerkräften entführt wurden; Menschen, die vor die Wahl gestellt wurden, sich entweder anzuschließen oder getötet zu werden; junge Männer aus armen Familien, denen Geld, ein Motorrad und eine Frau versprochen wurden; andere, die versuchten, ihre Gemeinschaft vor den Jihadisten zu schützen, indem sie sich ihnen anschlossen; wieder andere wurden zu Unrecht von den Sicherheitskräften verhaftet und flohen während eines Angriffs der Jihadisten aus dem Gefängnis. Ihre beste Überlebenschance sahen sie darin, den Jihadisten zu folgen – es sind komplexe und multifaktorielle Geschichten und Zeugnisse, die sich im Spannungsfeld unterschiedlicher und teils widersprüchlicher Kräfte bewegen. Die Klimakrise ist sicherlich ein Teil davon, doch sie kann nicht als wichtigster Erklärungsfaktor für die Boko-Haram-Krise angesehen werden.
Es ist bemerkenswert, dass der Wiederauffüllungsplan trotz widersprüchlicher Beweise immer noch von vielen führenden Politiker*innen verteidigt wird. Umso unglaublicher wird es, da es gute Gründe für die Annahme gibt, dass das Transaqua-Projekt eher eine weitere Konflikt verursachen als eine Lösung bieten – abgesehen davon, dass es eine unkluge Mittelverwendung ist. Im Tschadseebecken gäbe es sicherlich Besseres mit 50 Milliarden USD zu bewirken.
Die Überflutung von fruchtbarem Land wäre für die Bauern eine kurzfristige Katastrophe. Sie müssten auf weniger fertiles Land umziehen und hoffen, dass die neue Bewässerung des wieder aufgefüllten Sees diesen Verlust ausgleichen kann. Und das Projekt bringt noch viele andere Probleme mit sich. Der Bau der Kanäle zur Umleitung eines Teils des Kongo-Flussbeckens würde zu massiven Landenteignungen in politisch instabilen Gebieten führen. Der Staat ist hier nur begrenzt in der Lage, Konflikte zu regeln. Stattdessen besteht das Risiko, dass der Versuch des Konfliktmanagements mit massiver Gewalt einhergehen könnte. Schlechte Regierungsführung – ein Schlüsselfaktor im Boko-Haram-Konflikt selbst – wäre auch bei einem Multi-Milliarden-Dollar-Projekt problematisch, das sich über ein riesiges Gebiet erstreckt und die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen beeinträchtigt. Es sei darauf hingewiesen, dass der Tschad, Kamerun und Nigeria zu den Ländern mit der schlechtesten Regierungsführung weltweit gehören. Insgesamt könnte ein 50-Milliarden-Dollar-Projekt dazu beitragen, die lahmen Leviathane des Tschadseebeckens in noch korruptere, größere, plumpere und schwerfälligere Strukturen zu verwandeln.
All dies wirft eine Frage auf: Warum ist das Narrativ vom austrocknenden See für politische Entscheidungsträger*innen so attraktiv, obwohl es nachweislich ungenau und potenziell schädlich ist? In Anlehnung an die Arbeiten von Magrin sowie Daoust und Selby lassen sich mehrere plausible Gründe nennen.
Erstens hat das Beispiel Tschadsee etwas Besonderes an sich, etwas sehr Anschauliches. Mitten in der Sahelzone liegt dieser gigantische See – ein in der Tat beeindruckender Anblick: Es ist schwierig, ein Satellitenbild zu betrachten, ohne zu denken, dass der See eine Anomalie ist und dass er irgendwann von der umliegenden Wüste aufgefressen werden wird.
Selby und Daoust weisen darauf hin, dass das Narrativ im Zusammenhang mit dem Tschadsee zu einem kolonialen Klischee passt, das Afrika als einen Kontinent in ständiger Krise konstruiert. Ein Kontinent, der nicht in der Lage sei, mit seiner Umwelt umzugehen; der zur Wüstenbildung verdammt sei und nur durch eine Intervention von außen gerettet werden könne.
In den beteiligten internationalen Organisationen ist auch eine starke Vorliebe für universalisierende Narrative im Spiel. James Scott hat festgestellt, dass die Betrachtung aus der Position eines Staates zu einer globalisierenden, kontextlosen Lesart politischer Zusammenhänge führt. Dies gilt wahrscheinlich noch mehr in Kontexten, in denen multinationale Organisationen wie die Weltbank oder die Lake Chad Basin Commission beteiligt sind. Globalisiertes Regieren neigt dazu, "übertragbare" Narrative zu begünstigen, die sich leicht von einem Terrain auf ein anderes transferieren lassen. Die Klimakrise ist ein solches Beispiel. Auch wenn ihre Mechanismen und Erscheinungsformen immer kontextspezifisch sind und sich von einem Ort zum anderen erheblich unterscheiden können. Da die Klimakrise häufig unter dem Begriff "globale Erwärmung" zusammengefasst wird, vermittelt sie Bilder von Hitze und Dürre. Für Westeuropa mag dies tatsächlich zutreffen, aber die Tschadsee-Region wird teilweise anders betroffen sein, wenn auch mit ebenso verheerenden Folgen.
Ein weiterer Faktor ist, dass Staaten und internationale Institutionen nach Wegen suchen zusammenzuarbeiten, ohne zu viele Spannungen ausräumen zu müssen. Die Klimakrise ist ein unumstrittenes Narrativ, das den Boko-Haram-Konflikt entpolitisiert und keine direkte Verantwortung für ihn zuschreibt: Das ist viel einfacher, als über Governance, Menschenrechte oder die globale politische Ökonomie zu sprechen – ganz zu schweigen von der Ausarbeitung und Umsetzung von konkreten Maßnahmen. Das gilt vor allem in einem Kontext, in dem die beteiligten Staaten die eigene Bilanz verteidigen und oft auf die Trumpfkarte der Souveränität zurückgreifen.
Es gibt noch eine letzte Dimension, die in Betracht gezogen werden sollte: die besondere Anziehungskraft von "Hardware" für politische Entscheidungsträger*innen im Tschadseebecken und darüber hinaus. "Hardware" hat eine Sichtbarkeit, eine Materialität, die sie interessant macht. Sie kann sowohl ein starkes und dauerhaftes Symbol für politische Interventionen sein (und damit ein plausibler Weg, um Legitimität zu erlangen) als auch eine wunderbare Gelegenheit, um viel Geld zu mobilisieren und auszugeben. Dies kann für viele Beteiligte attraktiv sein: für die Unternehmen, die das Projekt umsetzen (das italienische Unternehmen, das in den 1980er Jahren das Transaqua-Projekt entwickelte, ist inzwischen mit einem führenden chinesischen Bauunternehmen verbündet), und auch für die Staaten des Tschadseebeckens. Sie können Geld ausgeben, das sie sonst wahrscheinlich nicht anziehen würden; Geld, das auf verschiedene Weise nach unten sickern wird – direkt und indirekt, legal und illegal – zumindest zu den politischen Eliten.
Der Tschadsee trocknet nicht aus, aber es gibt eine globale Klimakrise, deren Anzeichen sich im Tschadseebecken manifestieren. Grundsätzlich ist die Verbreitung globaler Narrative etwas Positives. Sie kann dazu beitragen, eine politische Gemeinschaft zu schaffen, die besser in der Lage ist, die Herausforderungen von heute zu bewältigen. Menschen, Institutionen und Organisationen, die an der Lösung der Boko-Haram-Krise interessiert sind, sollten dennoch dem Drang widerstehen, diese als eine Manifestation der Klimakrise darzustellen.
Stattdessen sollten sie der Komplexität der miteinander verknüpften Dynamiken, die den Kern des Konflikts ausmachen, Achtung schenken: Nigerias Geschichte der Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Gewalt und Identitätspolitik – sowie erschwerende Faktoren wie der Anziehungskraft globaler jihadistischer Organisationen (derzeit vor allem des Islamischen Staates) und ihrer Unterstützung sowie die grenzüberschreitenden Verbindungen, die zur Versorgung der Dschihadisten beitragen.
Dr. Vincent Foucher ist Senior Research Fellow bei der Forschungsinstitut Les Afriques dans le Monde (LAM) am Centre national de la recherche scientifique-Sciences Po Bordeaux und ehemaliger Non-Resident Fellow bei Megatrends Afrika.
Nationale Klimaziele reichen nicht aus, um die Erderwärmung einzudämmen. Eine große Herausforderung ist die geringe Beteiligung lokaler Akteure an ihrer Umsetzung. Lokale Klimaziele könnten hier eine entscheidende Rolle spielen, so unsere Autoren in diesem Megatrends Afrika Spotlight.
In northern Ghana, competition over resources has led to the emergence of antagonistic conflicts between ‘autochthonous’ farmers and ‘foreign’ herders. Climate change has acted as an exacerbating factor. New approaches are needed to reverse this worrying trend.
doi:10.18449/2022MTA-PB09
The Islamic State West Africa Province (ISWAP) is one of the most active jihadist movements. Its success is linked to the influence of the Islamic State (IS), which has encouraged the movement to adopt a more streamlined, bureaucratic governance that limits the amount of violence committed against Muslim civilians. This has caused great tension within the Nigerian jihadist movement. The Bakura faction resists this rationalisation and adheres to sectarianism, predation and clientelism. This case study explores the variety of jihadist governance models and their determinants.
doi:10.18449/2022MTA-PB08
Die EU hatte sich für den Gipfel mit der Afrikanischen Union im Februar 2022 viel vorgenommen. Doch außer einem neuen Investitionspaket gab es wenig Ergebnisse. Die Beziehungen sind angespannt, weil die afrikanischen Staaten ihre Interessen in der Partnerschaft nicht angemessen vertreten sehen.